Freitag, 29. Oktober 2021

Moderne Totentücher und Gedanken über die Art des Abschieds



Seit meiner fundierten und berührenden Ausbildung zur ehrenamtlichen Hospizhelferin 2012 beschäftigen mich viele Fragen über das  Sterben und den Tod, insbesondere auch:

Welche Möglichkeiten gibt es, Verstorbene würdevoll einzukleiden?

Auf der Suche nach etwas Besonderem, Individuellem und Schönem hat mich die alte Tradition der Tuchbestattungen inspiriert: ein wertvolles Tuch, eine ästhetische Umhüllung, ein wärmender Schutz. Natürlich kann ein Toter Wärme nicht mehr spüren. Aber für den, der Abschied nimmt, ist es ein gutes Gefühl, den Verstorbenen liebevoll in eine schützende Hülle zu kleiden. Und den Angehörigen, die den Toten am offenen Sarg verabschieden, prägt sich ein letztes, besonderes Bild ein.

Nach einem Todesfall werden Angehörige vom Bestatter oft gebeten, aus dem Kleiderschrank des Verstorbenen die passende Kleidung auszusuchen. Das ist ein wichtiger und schwerer Schritt im Annehmen des Todes. Manche entscheiden sich für die Lieblingskleidung, andere für den Sonntagsstaat. Es gibt auch Talare, die hinten offen sind - ähnlich einem Krankenhaushemd. Aber bei vielen besonderen Anlässen machen wir uns Gedanken über schöne Kleidung - für die Taufe, Kommunion, Schulabschluss, Hochzeit - warum nicht auch über Totengewänder? Die Kleidung aus dem Leben erscheint nicht jedem angemessen.

Es ist uns überliefert, dass Jesus in Tücher gehüllt wurde. In früheren Zeiten wurden Verstorbene nur in Tüchern zu Grabe getragen, die Sargbestattung war Begüterten vorbehalten, die sich das leisten konnten. Juden und Muslime pflegen weiterhin die Tradition der Tuchbestattung. Wenn Menschen sich aus weltanschaulichen, ökologischen oder religiösen Gründen für eine sarglose Bestattung entscheiden, wäre es wünschenswert, dass dies zukünftig in Deutschland neben der traditionellen Sargbestattung ermöglicht wird.



Meine modernen Sterbetücher nenne ich FÄHR-HÜLLEN. Es sind Schmuckstücke aus Walkstoff, Leinen, Filz oder Seide. Auf Anfrage können wir auch individuelle Tücher fertigen. Jedes Tuch ist ein handgefertigtes, individuelles Design-Stück aus hundertprozentigen Naturmaterialien. Es ist biologisch abbaubar und schont somit unsere Umwelt. 


Der Name FÄHR-HÜLLE® entstand in Anlehnung an die griechische Mythologie: Eine Fähre bringt den Verstorbenen vom Leben über den Fluss Styx in das Totenreich am anderen Ufer. 


Verdrängen wir die eigene Sterblichkeit?

Die Gedanken gehen weiter: Könnte die Überlegung rund um unser letztes Kleid vielleicht auch eine Annäherung an die eigene Sterblichkeit sein? Wollen wir bei der Verabschiedung in unsere Lieblingsfarben gekleidet sein, in einem individuellen und würdevollen Kleidungsstück?
Dieses könnten wir, wie es früher üblich war, bereits zu Hause aufbewahren. Das Sterben und der Tod werden somit nicht verdrängt, sondern in unser Leben einbezogen. Wie würden wir unser Leben leben, wenn wir unsere Blickrichtung ändern würden: Den Tod nicht als Schreckgespenst vor Augen haben, sondern unser Leben vom Tod her betrachten? Das Leben kann reicher werden, wir können mit mehr Dankbarkeit und Demut leben, wenn der Tod nicht ausgeschlossen wird. Die kleinen, schönen Augenblicke im Leben können mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Aus Gesprächen weiß ich, dass es Menschen gibt, die bereits zu Lebzeiten ihr eigenes Totenkleid, Sterbetuch oder Sargtuch selbst gestalten und nähen.
Für schwerstkranke Angehörige oder Freunde könnten wir so etwas tun – mit unseren Händen kreativ arbeiten. Gerade bei großem Leid, wenn der Tod schon nahe ist, sind Angehörige oft in tiefer Verzweiflung, nichts mehr für den Sterbenden tun zu können. Da kann die Arbeit an einem individuellen, besonderen und letzten Geschenk den Händen etwas zu tun geben. Gleichzeitig zeigen wir so die herzliche Verbundenheit. Eine Geste der Dankbarkeit und Liebe für langjährige, innige und tiefe Beziehungen und Freundschaften.
 


Verstecken wir die Toten?

Die meisten Menschen sind schockiert, wenn plötzlich der Tod in ihr Leben tritt. Sie fühlen sich überfordert, was als nächstes zu tun ist – kein Wunder, denn dieses Wissen ist verloren gegangen. Die traditionelle familiäre Totenfürsorge ist an eher ökonomisch denkende professionelle Bestatter abgegeben worden. Aber es gibt keinen Grund für Hektik und Betriebsamkeit. Unsere Verstorbenen waren vor ihrem Tod unsere Mütter, Väter,
(Ehe-)Partner, Kinder, Verwandte und Freunde. So viele Jahre wurden gemeinsam verbracht und nun rufen wir schnell nach dem Bestatter?

Alte Traditionen gibt es nur noch selten, wie zum Beispiel die offene Hausaufbahrung. Früher kamen die Nachbarn und verabschiedeten sich, Kinder durften dabei sein. Es war selbstverständlich, einen Verstorbenen zu sehen, ihm die letzte Ehre zu erweisen und sich um die Trauernden zu kümmern. Heutzutage sehen wir unendlich viele Tote in Fernsehen und Internet, aber gefühlsmäßig meilenweit entfernt, gemütlich auf der Wohnzimmercouch sitzend. 

Wenn uns die Nachricht ereilt, dass im nahen Umfeld jemand verstorben ist, haben wir dann den Mut, uns persönlich zu verabschieden? Oder die Gelegenheit? Es ist eine positive Entwicklung, dass die alten Traditionen wieder aufleben und zu Hause, im Pflege- oder Altenheim, im Krankenhaus, beim Bestatter oder in der Kirche die Möglichkeit geschaffen wird, an das Totenbett oder den offenen Sarg zu treten. Die Hand eines Toten zu berühren macht den Tod begreiflich. Bei einer Aufbahrung kann nach Unfällen oder Suiziden so viel des Verstorbenen gezeigt werden, wie möglich ist. Erschreckende Phantasiebilder bleiben uns vielleicht erspart, wenn wir nur einen unversehrten Körperteil sehen.

Lassen wir uns unsere Toten nicht nehmen!

Trauen wir uns wieder, unsere Verstorbenen selbst liebevoll zu waschen und in ein Tuch zu hüllen oder einzukleiden. Das Gesicht, die Hände  und den Körper einzuölen, die Haare zu kämmen. Verständnisvolle Bestatter begleiten unseren gewünschten Weg und bieten uns Unterstützung an. Viele Hinterbliebene wünschen sich, in dieser emotionalen Ausnahmesituation verständnisvoll und menschlich gut betreut zu werden. Nach dem Tod meiner Schwiegermutter im Pflegeheim wurden mein Mann und ich bestärkt, zunächst nichts zu tun, keinen Arzt zu rufen, nur uns ganz viel Zeit zum Abschied zu nehmen. Dafür sind wir beide heute zutiefst dankbar.


Dies ist mein Totentuch, in hellem Beige mit einer eingefilzten Blumenwiese.

Gabriele Suchantke-Rackner, München

Bei Interesse und für weitere Informationen freue ich mich über Ihre Kontaktaufnahme. Bitte senden Sie mir eine Email: abschiede@gmail.com

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